österreichische Literatur.

österreichische Literatur.
österreichische Literatur.
 
Die Frage, ob es eine eigenständige österreichische Literatur gibt und wie sie einzugrenzen wäre, ist umstritten: ob etwa alle im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn geborenen Schriftsteller (also z. B. auch R. M. Rilke, F. Kafka oder P. Celan) unter den Begriff österreichische Literatur fallen oder nur jene, die sich durch ihren Sprachgebrauch festlegen lassen (z. B. J. N. Nestroy, P. Rosegger) oder in thematischem Bezug zur Habsburgermonarchie oder den beiden Republiken stehen (A. Schnitzler, H. von Hofmannsthal, H. von Doderer). Gewiss sind die Bemühungen um kulturelle Eigenständigkeit verknüpft mit allerlei Abhängigkeiten vom Ausland. Viele Autoren haben ihre Heimat ganz oder zeitweise verlassen; viele Werke der österreichischen Literatur erscheinen heute in deutschen Verlagen und finden den Großteil ihrer Käufer und Leser in Deutschland.
 
Die Frage, seit wann es eine österreichische Literatur gibt, ist noch umstrittener. Unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung kann festgehalten werden, dass der Beginn zur Selbstreflexion und kritischer Besinnung auf eine eigenständige Entwicklung im 18. Jahrhundert unter Maria Theresia einsetzte, als die Auseinandersetzungen zwischen Preußen und Österreich immer härter wurden. Diese Ansicht wird auch von der österreichischen Literaturgeschichtsschreibung im Wesentlichen bestätigt. Die für die deutsche Literaturgeschichtsschreibung charakteristische Standardeinteilung »Sturm und Drang - Klassik - Romantik« lässt sich für die österreichische Literatur nicht belegen, auch gab es im Vormärz in Österreich kaum politische Literatur, später weder eine ausgeprägte naturalistische noch expressionistische Bewegung. Dennoch gibt es auch im 19. und 20. Jahrhundert keine von der übrigen deutschsprachigen Literatur unabhängige österreichische Literatur: Beide Entwicklungen sind vielmehr aufeinander bezogen und voneinander abhängig.
 
 Von der Aufklärung zum poetischen Realismus
 
Mit dem Josephinismus erlebte die österreichische Aufklärung ihre eigene Ausprägung. Das geistige Leben wurde wesentlich von den antiklerikalen, besonders antimonastischen Bestrebungen Kaiser Josephs II. bestimmt und von den Ideen des Freimaurertums. Beide Aspekte spiegeln sich in der zeitgenössischen österreichischen Literatur. Herausragende Namen gibt es in dieser Zeit wenige: An erster Stelle muss A. Blumauer genannt werden mit seiner Vergil-Travestie »Die Abentheuer des frommen Helden Aeneas. ..« (1782), einer beißenden Satire auf die römische Kirche. Als Aufklärer sind ferner zu nennen der Lyriker J. B. Alxinger, der vielseitig tätige J. Richter, der im Stil Klopstocks schreibende Lyriker M. Denis sowie J. F. Ratschky (* 1757, ✝ 1810), dessen »Wiener Musenalmanach« (1777-96) das wichtigste Forum für die Dichtung der josephinischen Zeit wurde.
 
Eine eigenständige Entwicklung nahm in der österreichischen Literatur seit dem 18. Jahrhundert die Dramatik. J. A. Stranitzky begründete schon bald nach 1700 die Altwiener Volkskomödie mit der beliebten Person des »Hans Wurst«; seine Nachfolger, u. a. P. Hafner, A. Bäuerle, J. A. Gleich, K. Meisl und I. F. Castelli schufen ein außergewöhnlich reiches Repertoire. Auch M. Lindemayrs Mundartstücke, die aufklärerischen Anliegen, barocke Theatertradition und bäuerliche Komik verbinden, begründen eine eigenständige Linie der österreichischen Literatur. Ähnlich wie Gottsched in Deutschland bemühte sich der Theoretiker der österreichischen Aufklärung, J. von Sonnenfels, in Wien darum, das volkstümliche Stegreiftheater in die Vorstädte zurückzudrängen, damit die Bühne ihrer erzieherischen Funktion gerecht werden könne.
 
Die Zeit zwischen dem Wiener Kongress und 1848 war geprägt durch das Regime des Außenministers und Staatskanzlers K. W. von Metternich. Sein repressives System, zu dem eine rigorose Zensur gehörte, förderte den biedermeierlichen Rückzug ins Private, die besondere Atmosphäre in Bürgerhaus und Salon, wo Freundeskreise von Dichtern und Malern, Musikern und Mäzenen zusammentrafen. In dieser Zeit brachte die österreichische Literatur bedeutende Persönlichkeiten hervor, deren Wirkung bis in die Gegenwart reicht: Mit F. Raimund und J. N. Nestroy fand das Wiener Volkstheater seine Vollendung, in F. Grillparzers Tragödien, deren Handlungen vollendet psychologisch motiviert sind, erreichte die österreichische Dramatik ihren Gipfel. Diese Autoren unterscheiden sich in charakteristischer Weise von den gleichzeitigen literarischen Bewegungen und Tendenzen im übrigen deutschsprachigen Raum. Dies gilt für die Wahl des Stoffes (die österreichische Geschichte spielt eine große Rolle, v. a. bei Grillparzer, Volkssagen und -märchen bei Raimund, tagespolitische Aktualität bei Nestroy), für die Wahl der Gattung (die vom Wiener Volksstück entscheidend geprägt ist) und für die spezifische barocke Bildlichkeit der Sprache. Überragender Erzähler der österreichischen Literatur dieser Zeit ist A. Stifter. Seine Prosa erschloss der gesamten deutschsprachigen Literatur eine neuartige Erzählkunst, die auf der Grundlage Goethes und Jean Pauls weit in die Moderne weist (»Nachsommer«, 1857). Bleibende Bedeutung als Erzähler erlangte auch C. Sealsfield, der als erster deutschsprachiger Autor die amerikanische Natur und Gesellschaft schilderte. N. Lenau, bedeutendster österreichischer Lyriker des 19. Jahrhunderts, steht mit seinen melancholischen Gedanken- und Naturdichtungen der deutschen Romantik nahe. Eines der seltenen Beispiele politischer Lyrik der Metternich-Ära schrieb A. Grün mit seinen (anonym erschienenen) »Spaziergängen eines Wiener Poeten« (1831). Repräsentant der staatstragenden zeitgenössischen Dichtung war J. G. Seidl, Autor der »Kaiserhymne« und Zensor. Als wichtigster Vertreter der Mundartdichtung des 19. Jahrhunderts gilt F. Stelzhamer. Das vielseitige Werk von F. Kürnberger spiegelt die Auseinandersetzung der Zeit um 1848 von den Positionen des österreichischen Liberalismus aus.
 
In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte Marie von Ebner-Eschenbach mit ihren schlichten, von großer Güte, Mütterlichkeit und Humor erfüllten Erzählungen (»Dorf- und Schloßgeschichten«, 1883) und Romanen (»Das Gemeindekind«, 2 Bände, 1887) neue ästhetische und soziale Maßstäbe. Die subtile Psychologisierungskunst F. von Saars vermittelt v. a. in den Novellen ein realistisches Gesellschaftsbild, das schon auf eine Endzeitstimmung weist. Eigene Töne fand die österreichische Literatur auch mit jenen Autoren, die die jüdische Welt thematisieren, so K. E. Franzos, L. Kompert und L. von Sacher-Masoch. Auf dem Theater setzte L. Anzengruber die Traditionen des Wiener Volkstheaters fort, wies aber in seiner unsentimentalen Darstellung bäuerlichen Lebens (auch in den Romanen) schon auf den Naturalismus. Ähnlich wie Anzengruber gestaltete auch P. Rosegger das dörfliche Leben; seine Erzählungen, v. a. aber die autobiographischen Bände »Als ich noch der Waldbauernbub war« (1900-02), auf deren kulturpessimistischer, stadtfeindlicher Haltung sich wenig später die »Heimatkunstbewegung« berief, waren im gesamten deutschen Sprachraum erfolgreich.
 
 Literarische Tendenzen am Ende der Habsburgermonarchie
 
Parallel zu Anzengruber und Rosegger, die für die traditionellen Themen und Ausdrucksmöglichkeiten der österreichischen Literatur stehen, entwickelte sich um die Jahrhundertwende eine außergewöhnlich reiche Literatur, die alle Spielarten der Moderne für den deutschen Sprachraum erschloss. Die Vielzahl der Begriffe, die bemüht worden sind, um einen gemeinsamen Nenner für diese Epoche zu finden (Symbolismus, Neuromantik, Wiener Expressionismus, Dekadenz) spiegelt die verwirrende Vielfalt ihrer Vertreter (die sämtlich in den 60er- bis 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts geboren sind), ihr Selbstverständnis und ihre Zielsetzungen anschaulich wider. Auch den Kreis des »Jungen Wien« mit A. Schnitzler, R. Beer-Hofmann, L. von Andrian-Werburg, H. von Hofmannsthal, H. Bahr, P. Altenberg verband kein eigentliches Programm; gemeinsam war ihnen lediglich das Wissen um das nur noch hinausgeschobene, unabwendbare Ende des Habsburgerreiches und ein gleichzeitiges Interesse an psychischen Vorgängen, die Bevorzugung des intellektuellen, urbanen Milieus. Ausdruck der Gemeinsamkeit ist eine bei vielen Autoren ähnlicher Motivik: Sie bevorzugen das Todesmotiv, gehen auf Distanz zur Wirklichkeit bis hin zur vollkommenen Vermischung von Realität und Traum. Hofmannsthals Werk belegt beispielhaft die zum Teil gegensätzlichen Tendenzen: Es verarbeitet nacheinander oder parallel symbolistische, klassizistische, barocke, sogar mittelalterliche Vorbilder. Die Auslotung der menschlichen Psyche, das Sichtbarmachen subtilster innerer Vorgänge gelang Schnitzler in Novellen und in Bühnenwerken, die durch ihre offene Darstellung des Sexuallebens im zeitgenössischen Wien Skandale hervorriefen (v. a. »Der Reigen«, 1903). Zunehmend skeptisch standen alle Autoren der Sprache und ihren Möglichkeiten gegenüber, artikuliert u. a. bei Hofmannsthal (»Chandos-Brief«, 1902), v. a. aber bei K. Kraus, dessen Zeitschrift »Die Fackel« Sprachkritik als Kulturkritik betrieb.
 
Wichtiges literarisches Forum dieser Jahrzehnte war auch L. von Fickers Zeitschrift »Der Brenner« (1910-54, 18 Bände); hier veröffentlichte G. Trakl seine Gedichte, deren apokalyptische, visionäre Bilder in formstrengen Versen oder freien Rhythmen ein bis dahin so nicht empfundenes Leiden an der Welt artikulieren.
 
Den Schlüsselroman der österreichischen Moderne schrieb A. Kubin mit »Die andere Seite« (1909), eine beklemmende Endzeitvision.
 
Eine eigene Gruppe innerhalb der österreichischen Literatur bildeten etwa seit der Jahrhundertwende (und über das Ende des Habsburgerreichs hinaus) die deutschsprachigen Schriftsteller Prags (Prager Kreis), die mehr durch ihre gemeinsame Herkunft und die Atmosphäre ihrer Heimatstadt geprägt waren als durch ein gemeinsames ästhetisches Programm. Zu ihnen gehörten so unterschiedliche Autoren wie F. Werfel, M. Brod, G. Meyrink, J. Urzidil, E. Weiss, L. Perutz. Aus diesem Umfeld kommen auch die überragenden Gestalten der österreichischen Literatur, die wesentlich auf die Weltliteratur des 20. Jahrhunderts wirkten: F. Kafka und R. M. Rilke. Ihr Werk spiegelt in unterschiedlicher Weise den Zusammenbruch überkommener Werte und ihre ästhetische Bewältigung.
 
 Von 1918 bis 1945
 
Der Untergang der k. und k. Monarchie 1918 hat tiefe Spuren in der österreichischen Literatur hinterlassen; er bot den großen Romanciers in den folgenden Jahrzehnten den beherrschenden Stoff. Dabei verzichteten sie allerdings - im Unterschied zu den meisten zeitgenössischen deutschen Autoren - auf eine ideologisch dezidierte Aussage, obwohl immer der direkte Bezug zur historischen Realität vorhanden ist. Mit wehmutsvollem Blick zurück beschreibt J. Roth in seinen Romanen »Radetzkymarsch« (1932) und »Die Kapuzinergruft« (1938) die versunkene Welt. R. Musils Fragment gebliebenes Monumentalwerk »Der Mann ohne Eigenschaften« (1930-43, 3 Teile), wesentlicher Beitrag der österreichischen Literatur zur Erneuerung des Romans im 20. Jahrhundert, analysiert mit vernichtender Ironie die Gesellschaft »Kakaniens« kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Auch die Romane H. von Doderers, die des Maler-Dichters A. P. Gütersloh sowie die frühen Werke H. Brochs kreisen mit unterschiedlichen künstlerischen Mitteln um Ursachen und Folgen des Zusammenbruchs. E. Canettis Roman »Die Blendung« (1935) gehört zeitlich und räumlich in diesen Kontext, verzichtet aber auf den konkreten historischen Bezug: Es sind zeitlose menschliche Defekte, die in die Katastrophe führen.
 
Die österreichische Literatur ist reich an Werken, die mit viel Hintersinn um skurrile und unheimliche Begebenheiten, dämonische Charaktere und übersinnliche Vorgänge kreisen. Diese Linie, die auch bei Kafka sichtbar wird, reicht von Meyrink, Kubin, Perutz bis zu F. von Herzmanowsky-Orlando, dessen Romane mit barocker Üppigkeit und surrealer Fantasie erzählt sind, und ist auch noch im Werk A. Drachs wirksam. An die realistischen Traditionen des 19. Jahrhunderts knüpfte dagegen S. Zweig an, seine Novellen führen die Gattung in der deutschsprachigen Literatur zu einem neuen Höhepunkt. Bis in die Gegenwart erfolgreich sind seine historischen und biographisch-psychologischen Essays (»Sternstunden der Menschheit«, 1927), die in spannungsvoller Erzählweise historische Persönlichkeiten einem großen Publikum nahe bringen.
 
Die Dramatik in der Tradition Anzengrubers wurde fortgeführt von K. Schönherr und in den holzschnittartigen Tiroler Volksstücken F. Kranewitters. Etwa gleichzeitig kündigten die visionären Stücke O. Kokoschkas auf der Bühne den Expressionismus an. Der bedeutendste österreichische Dramatiker der Zwischenkriegszeit war Ö. von Horváth. Er war der sozialkritisch engagierte, ironische Erneuerer des Wiener Volksstücks, der die Figuren seiner tragikomischen Stücke auch sprachlich prägnant charakterisierte. Als Dramatiker dieser Zeit sind außerdem noch zu nennen F. Bruckner, der mit seinen psychoanalytischen Stücken großen Erfolg hatte (allerdings v. a. in Berlin wirkte), der Expressionist F. T. Csokor und A. Wildgans, dessen naturalistische Tragödien vom Wiener Publikum gefeiert wurden.
 
In der österreichischen Literatur existiert bis in die Gegenwart eine auf das 18. Jahrhundert (K. M. Hofbauer) zurückgehende starke katholische Literaturtradition. In der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde sie repräsentiert u. a. von M. Mell, Enrica von Handel-Mazzetti und Paula Grogger, v. a. aber von F. Schreyvogl, der noch vor 1938 zum prononcierten Befürworter einer nationalsozialistischen Kulturpolitik wurde. Andere Autoren sympathisierten aus einem »Elitebewusstsein« heraus mit den Nationalsozialisten (so J. Weinheber mit seiner formal perfekten Lyrik) oder bekannten sich offen zur völkischen Ideologie (wie E. G. Kolbenheyer mit seinen historischen Romanen und Dramen). Auch die Romane von K. H. Waggerl sind nicht frei von Blut-und-Boden-Verherrlichung.
 
Mit dem »Anschluss« Österreichs 1938 holte die Emigrationswelle der deutschsprachigen Literatur die österreichischen Autoren ein. Der Gleichschaltung entzogen sich (zum Teil schon 1933 von Deutschland aus) u. a. Canetti, S. Zweig, Musil, Horváth, J. Roth, F. Bruckner, Csokor und Broch, dessen im Exil entstandener Roman »Der Tod des Vergil« (1945), eines der wichtigsten Werke der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts, in einem großen inneren Monolog eine Epochenbilanz versucht.
 
 Die Literatur nach 1945
 
Die Aufarbeitung der Teilhabe oder Schuld am Nationalsozialismus, sei es individuell oder kollektiv, war in der österreichischen Literatur unmittelbar nach Kriegsende zunächst die Ausnahme, auch der Krieg war kein literarisches Thema. Etliche Autoren behielten ihren Wohnsitz im Ausland, so Bruckner, Canetti, der streitbare Lyriker der 68er-Revolte, E. Fried, und F. Hochwälder, dessen Stücke sich am Beispiel historischer Stoffe mit der unmittelbaren Vergangenheit auseinander setzen, und der seit 1970 in englischer Sprache schreibende J. Lind.
 
Zu denen, die aus dem Exil nach Österreich zurückkehrten, gehörten Hilde Spiel, die zur wichtigen Mittlerin zwischen englischer und österreichischer Literatur wurde, sowie H. Weigel und F. Torberg. Die kulturelle Atmosphäre war zunächst vom Antikommunismus geprägt (so wurden - unter dem Einfluss Torbergs - am Wiener Burgtheater die Stücke B. Brechts nicht gespielt). Die erste literarisch bedeutende Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit kam von Ilse Aichinger mit dem Roman »Die größere Hoffnung« (1948). Auch Csokor, seit 1947 Präsident des österreichischen PEN-Clubs, arbeitete in autobiographischen Schriften seine Exilerlebnisse auf. Zeitkritische Haltung prägt auch Lyrik und Romane G. Fritschs. Ein Versuch der selbstkritischen Aufarbeitung nationalsozialistischen Engagements kam von A. Bronnen (»am b. gibt zu protokoll«, 1954).
 
Für die Erneuerung der österreichischen Literatur spielten die Zeitschriften eine wichtige Rolle: »Der Plan« (herausgegeben von O. Basil), »Das Silberboot« (herausgegeben von E. Schönwiese) und »Wort in der Zeit« (herausgegeben von R. Henz; später unter dem Titel »Literatur und Kritik«), zuletzt v. a. »manuskripte« (herausgegeben von A. Kolleritsch). Die literarische Szene organisierte sich zunächst in Wien. Hier trafen sich die aus dem Exil Zurückgekehrten mit den jungen Autoren: Ilse Aichinger, G. Fritsch, auch Ingeborg Bachmann begann hier zu schreiben; P. Celan, der Kosmopolit aus dem deutsch-jüdischen Milieu der rumänischen Bukowina, veröffentlichte 1948 in Wien seinen ersten Gedichtband (»Der Sand aus den Urnen«). 1952-55 entstand die Wiener Gruppe: H. C. Artmann, F. Achleitner, K. Bayer, G. Rühm und O. Wiener provozierten die Öffentlichkeit mit Sprachexperimenten aller Art, die auch den Dialekt einbezogen und in den Zusammenhang der konkreten Poesie gehören. E. Jandl, der Hauptvertreter der experimentellen Lyrik in Österreich, knüpfte hier an. 1958 konstituierte sich das Grazer Forum Stadtpark, dessen Zeitschrift »manuskripte« neben der in Salzburg erscheinenden Zeitschrift »Literatur und Kritik« (seit 1960) das wichtigste Organ der modernen österreichischen Literatur ist. Im Februar 1973 wurde in Graz die »Grazer Autorenversammlung« gegründet, in demonstrativer Abkehr vom PEN-Club; nahezu die gesamte Avantgarde der österreichischen Gegenwartsliteratur trat ihr bei.
 
Merkmal der österreichischen Literatur der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte ist in hohem Maße Sprachskepsis und -experiment. Surrealismus und Dadaismus beeinflussten die Wiener Gruppe, die Texte von Jandl und Friederike Mayröcker. Die jüngeren Autoren orientierten sich mehr an L. Wittgenstein, Skepsis gegen die Sprache mündete in Skepsis gegen die Gesellschaft (so bei P. Handke, G. Jonke, J. Schutting). Als überragende Lyrikerin fand Ingeborg Bachmann ihre eigene Sprache. Die katholische Literaturtradition wurde u. a. von Gertrud Fussenegger, Erika Mitterer und Christine Busta weitergeführt. Existenzialistische Positionen bestimmen das Werk H. Leberts, seltenes Beispiel der Vergangenheitsbewältigung in der österreichischen Literatur dieser Zeit.
 
Etwa Mitte der 70er-Jahre erschienen zwar zunehmend Werke mit direkterem Realitätsbezug, zum Teil mit autobiographischem Hintergrund (G. Wolfgruber, F. Innerhofer, W. Kofler, Brigitte Schwaiger), sozialkritische Romane u. a. von W. Kappacher und H. Zenker, doch behielten Sprachexperimente und Sprachkritik einen festen Platz in der erzählenden Prosa, so bei M. Scharang, Barbara Frischmuth, auch in den satirischen Romanen und Erzählungen von A. Brandstetter und in den sich der eindeutigen Zuordnung entziehenden Texten von G. Amanshauser Konventionellen Erzählmustern folgt dagegen der seit den 60er-Jahren kommerziell erfolgreichste österreichische Schriftsteller, der Bestsellerautor J. M. Simmel.
 
Auf dem Theater war Ende der 60er-Jahre W. Bauer der erfolgreichste Autor, sein Stück »Magic Afternoon« (Uraufführung 1968), das Leere und Langeweile des Bildungsbürgertums demaskiert, traf genau den Nerv der Zeit. In den 70er- und 80er-Jahren wurde die österreichische Dramatik entscheidend geprägt durch T. Bernhard; seine bitterbösen Stücke variieren die Themen Tod, seelische Verkrüppelung, Ausweglosigkeit mit zunehmend satirischen Zügen, v. a. sein letztes, »Heldenplatz« (1988), rechnet erbarmungslos mit den überkommenen österreichischen Werten ab. Auch die Dramen Elfriede Jelineks (beginnend mit »Burgtheater«, 1984) arbeiten Tabuthemen auf; Handkes experimentelle Stücke kreisen wiederum um die Fragwürdigkeit des Mediums Sprache als Verständigungsmittel. F. Mitterer und P. Turrini knüpften für ihre gesellschaftskritischen Intentionen an das österreichische Volksstück an, wobei die vermeintliche Idylle brutal unterlaufen wird. Der erst Anfang der 90er-Jahre schlagartig berühmt gewordene Außenseiter W. Schwab führte diese Tendenzen exzessiv weiter. Zum literarischen Leben Österreichs gehören vielfältige Formen des Kabaretts und Chansons, die in der Nachfolge von Nestroy, K. Kraus und Horváth spezifisch Österreichisches, v. a. gesellschaftliche Konventionen und Zwänge, ironisch artikulieren (G. Kreisler, H. Qualtinger).
 
Ihren wohl originellsten Beitrag im deutschsprachigen Raum leistete die österreichische Literatur mit jenen Werken, in denen die reale Erfahrung des Einzelnen und die freie Einbildungskraft des Erzählers zu kunstvollen und immer eigenständigen Gebilden verschmelzen und damit neue Lebenshaltungen ebenso wie neue literarische Möglichkeiten ausprobiert werden. Beispiele dafür bieten P. Handkes Werkgruppe »Langsame Heimkehr« (1979-81), die Angst und Heimatsuche thematisierenden Romane von G. Roth (»Der stille Ozean«, 1980), die auch sprachlich äußerst fantasievolle Prosa von G. Jonke (»Der ferne Klang«, 1979), die melancholisch-aggressiven Romane von P. Rosei (»Die Milchstraße«, 1981), die essayistischen Dialogromane von H. Eisendle (»Die Frau an der Grenze«, 1984), die hoch stilisierten Romane von Elfriede Jelinek (»Die Klavierspielerin«, 1983), auch die Romane von W. Muster, die späten Texte von Ingrid Puganigg (* 1947), die Prosa- und dramatischen Arbeiten von Marlene Streeruwitz. Seit Beginn der 1980er-Jahre wurden diese Eigentümlichkeiten der österreichischen Literatur im Zeichen der Postmoderne variiert: so von J. Winkler in seiner Trilogie »Das wilde Kärnten« (1979-82), von C. Ransmayr in seiner sehr erfolgreichen Ovid-Adaption »Die letzte Welt« (1988).
 
Auch die neueste österreichische Literatur wirkt im gesamten deutschen Sprachraum mit ihrer Vielseitigkeit und Eigenständigkeit, die eng mit der regionalen Bindung der Autoren zusammenhängt. Besonders erfolgreich wurden R. Schneider mit »Schlafes Bruder« (1992) und J. Haslinger mit »Opernball« (1995). Einen eigenen Erzählgestus fanden auch N. Gstrein, A. Hotschnig, Marianne Fritz, Lilian Faschinger, M. Köhlmeier v. a. mit seinen Homer-Adaptionen, sowie R. Menasse, der sich auch in Essays mit den geistigen Grundlagen österreichischer Identität auseinander setzt. Weit ausgreifend schildert F. C. Zauner in seinem monumentalen Zyklus »Das Ende der Ewigkeit« (1992-96) Heimat als Antiidylle. Gegensätzliche Akzente dazu setzen z. B. Marie-Thérèse Kerschbaumer, die in Romanen und Lyrik dem Fremdsein Ausdruck verleiht und R. Schrott, der in Neuübersetzungen und Adaptionen Werke der Weltliteratur für die Gegenwart aufbereitet; Ironie und Absurdität beherrschen die dramatischen Texte und Prosaarbeiten Monika Helfers (* 1947). Autobiographisch-zeitkritische Stoffe verarbeitete Anna Migutsch (* 1948), während A. Fian seine satirische Zeitkritik in artifiziellen Texten (so genannten Dramoletten) artikuliert. Die Veröffentlichungen jüngerer Autoren erhalten gleichfalls häufig ihr eigenes Gepräge durch eine spezifisch österreichische Thematik: Doron Rabinovici (* 1961) setzt sich in Erzählprosa und Essays mit jüdisch-österreichischer Geschichte und Selbstverständnis auseinander, Ernst Molden (* 1967) verbindet schwarzen Humor mit Wiener Kolorit, Franzobel knüpft mit seinen sprachspielerischen Texten an die Wiener Schule an, auch die Helden der Romane von Thomas Glavinic (* 1972) sind österreichischer Tradition verpflichtet.
 
Die Gegenwartsliteratur Südtirols, die historisch und sprachlich mit der österreichischen Literatur verbunden ist, wird v. a. durch N. Kaser und J. Zoderer repräsentiert, weitere wichtige Vertreter sind der Lyriker Gerhard Kofler (* 1949) und Oswald Egger (* 1963), der in allen Gattungen intensiv mit der Sprache experimentiert.
 
 
Gesamtdarstellungen:
 
Deutsch-Österr. Literaturgesch., hg. v. J. W. Nagl u. a., 4 Bde. (Wien 1899-1937);
 K. Adel: Geist u. Wirklichkeit. Vom Werden der österr. Dichtung (ebd. 1967);
 K. Adel: Aufbruch u. Tradition. Einf. in die ö. L. seit 1945 (ebd. 1982);
 
Lit. u. Literaturgesch. in Österreich, hg. v. I. T. Erdélyi (Budapest 1979);
 
Die ö. L. Eine Dokumentation ihrer literarhistor. Entwicklung, hg. v. H. Zeman, 7 Bde. (Graz 1979-89);
 
Gesch. der Lit. in Österreich von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. v. H. Zeman:7 Bde. (Graz 1994-99);
 
Literaturgesch. Österreichs. Von den Anfängen im MA. bis zur Gegenwart, hg. v. H. Zeman:(Graz 1996);
 H. Giebisch u. G. Gugitz: Bio-bibliograph. Literatur-Lex. Österreichs (Wien 21985);
 G. Ruiss u. A. Vyoral: Literar. Leben in Österreich (Neuausg. ebd. 1991).
 
Einzelne Epochen und Probleme:
 
Adalbert Schmidt: Dichtung u. Dichter Österreichs im 19. u. 20. Jh., 2 Bde. (Salzburg 1964);
 
V. Suchy: Lit. in Österreich. Von 1945 bis 1970 (Wien 21973);
 
Die zeitgenöss. Lit. Österreichs, hg. v. H. Spiel (Zürich 1976);
 
Beitrr. zur österr. Literaturgesch., in: Mitt. der Mundartfreunde Österreichs, Jg. 31 (Wien 1977); Ö. L. zur Zeit der Babenberger. Vorträge der Lilienfelder Tagung 1976, hg. v. A. Ebenbauer u. a. (Wien 1977);
 
C. Magris: Der unauffindbare Sinn. Zur ö. L. des 20. Jh. (Klagenfurt 1978);
 
C. Magris: Der habsburg. Mythos in der ö. L. (a. d. Ital., Salzburg 21988);
 
U. Greiner: Der Tod des Nachsommers. Aufsätze, Porträts, Kritiken zur österr. Gegenwartslit. (1979);
 
F. Aspetsberger: Literar. Leben im Austrofaschismus. Der Staatspreis (1980);
 
H. Vogelsang: Österr. Dramatik des 20. Jh. (Wien 21981);
 
Für u. wider eine ö. L., hg. v. K. Bartsch u. a. (1982);
 
H. Seidler: Österr. Vormärz u. Goethezeit. Gesch. einer literar. Auseinandersetzung (Wien 1982);
 
Lit. der Nachkriegszeit u. der fünfziger Jahre in Österreich, hg. v. F. Aspetsberger u. a. (Wien 1984);
 
R. Innerhofer: Die Grazer Autorenversammlung (1973-1983) (ebd. 1985);
 
Ö. L. der Dreißiger Jahre, hg. v. K. Amann (ebd. 1985);
 
Österr. Schriftsteller im Exil, hg. v. S. M. Patsch (ebd. 1986);
 
J. Rieckmann: Aufbruch in die Moderne. Die Anfänge des Jungen Wien. Ö. L. u. Kritik im Fin de Siècle (21986);
 
Lit. der Aufklärung: 1765-1800, hg. v. E. Rosenstrauch-Königsberg (Wien 1988);
 
Wesen u. Wandel der Heimatlit. Am Beispiel der ö. L. seit 1945, hg. v. K. K. Polheim (Bern 1989);
 
K. Zeyringer: Innerlichkeit u. Öffentlichkeit. Ö. L. der achtziger Jahre (1992);
 
E. Middell: Lit. zweier Kaiserreiche. Dt. u. ö. L. der Jahrhundertwende (1993);
 
Jenseits des Diskurses. Lit. u. Sprache in der Postmoderne, hg. v. A. Berger u. a. (Wien 1994);
 
W. G. Sebald: Die Beschreibung des Unglücks. Zur ö. L. von Stifter bis Handke (4.-5. Tsd. 1994);
 
Die Wiener Moderne. Lit., Kunst u. Musik zw. 1890 u. 1910, hg. v. G. Wunberg (Neudr. 1995);
 
K. Amann: Zahltag. Der Anschluß österr. Schriftsteller an das Dritte Reich (21996);
 
K. Zeyringer: Ö L. 1945 - 1998. Überblicke - Einschnitte - Wegmarken (Innsbruck 1999);
 
Lexikon der österr. Exillit., hg. v. S. Bolbecher u. K. Kaiser (2000);
 
V. Kaukoreit u. K. Pfoser-Schewig: Die ö. L. seit 1945. Eine Annäherung in Bildern (2000).

Universal-Lexikon. 2012.

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